Das erste Jahr (1984)
Nun war die Gründung einer Firma beschlossene Sache. Die Leitidee war klar: von der Spitze der Technik aus Konzepte entwickeln, wie man klug und human mit Computern umgeht, das Mantra der neuen Firma.
Startschwierigkeiten
Wir waren fünf Personen, drei von uns für das operative Geschäft, zwei unterstützend im Hintergrund. Und wir hatten kein Geld. Meine Ersparnisse aus den Projekten des Vorjahres waren eher bescheiden. Die neue Firma würde davon leben müssen, was sie erwirtschafteten konnte. Businesspläne, Bankkredite mit unvermeidlichen Abhängigkeiten von Bankern und Fördergelder von Behörden kamen nicht in Frage. Finanzielle Unabhängigkeit war uns wichtig. Es war klar, dass es keine Traumgehälter geben würde.
So blieben für das Risiko der Firmengründung zu guter Letzt außer mir nur Ursula Kaiser, die designierte Geschäftsführerin und Wolfgang Apitzsch übrig. Wir drei trafen uns an einem regnerischen Aprilmorgen in Wolfgangs Frankfurter Kanzlei und unterzeichneten unter Obhut seiner Notarskollegin den Gesellschaftervertrag. Da wir nun unbedingt einen Namen brauchten, viele Möglichkeiten vorher hin und hergewälzt hatten, aber nicht zu Potte kamen, wurde unter Zeitdruck daraus die Gesellschaft für Technologieberatung und Systementwicklung, abgekürzt tse. Der Name war mir nachträglich ganz recht, brachte er doch zum Ausdruck, dass wir uns nicht wie viele Beratungsfirmen auf schlaue Sprüche über die Technik reduzieren würden, sondern das Handwerk auch selber betreiben wollten. Die Computertechnik glänzte schon damals mit einem rasanten Entwicklungstempo. Das Risiko, nach drei Jahren nicht mehr zu wissen, wovon wir reden, war ein No Go. Aber zunächst ging es darum, eine Residenz für die Firma zu finden.
Standortsuche

Firmenschild
Nach längerer vergeblicher Suche half uns ein echter Glücksfall: Der EDV-Leiter der HHLA (Haburger Hafen und Lagerhaus Aktiengesellschaft) überraschte mich mit dem Vorschlag, uns in Hamburgs historischer Speicherstadt anzusiedeln. Dabei gab es eine Besonderheit, denn die Speicherstadt war damals Zollausland. Der Zugang war abgesperrt durch Schranken mit Zollhäuschen, es gab Fahrzeug- und Gepäckkontrollen, jedenfalls solange die Zöllner uns nicht kannten. Und ansiedeln durften sich nur Firmen, die nachweisbar etwas mit der Hafenwirtschaft zu tun hatten. Doch dafür gab es eine überraschend schnelle Lösung.
Das tse-Haus, 1. Stock 4 Räume
Dem EDV-Chef der HHLA hatte ich über das Förderprogramm Humanisierung der Arbeit (HdA) berichtet. Wir beratschlagten, wie man ein groß angelegtes Lagerlogistik-Projekt der HHLA um förderungswürdige Aspekte anreichern könnte und beschlossen, einen gemeinsamen Antrag beim Bundesforschungsministerium zu stellen. Und damit hatten wir auch den erforderlichen „maritimen Bezug“. So zogen wir in ein stattliches Speicherhaus, mitten unter Schiffsausrüster, Kaffeeröster, Gewürz- und Teppichhändler.
Die friedliche Lösung des EMIL-Falles war nachhaltend beeindruckend. Der damalige Betriebsratsvorsitzende der HHLA erzählte auf einer Party der Hafenbetriebe seinen Kollegen über die Bekanntschaft mit mir: Das war wie ein Sechser im Lotto. Und so hatte ich schnell die Betriebsräte von einem Dutzend Hafeneinzelbetrieben als Kunden.
Rechnerpower
Nun aber gab es ein echtes Problem. Wir - genauer ich - brauchte einen Rechner, nicht irgendwas, sondern das Beste, was in der für uns möglichen Preisklasse zu haben war. Die Entscheidung fiel auf das kleinste Exemplar der VAX-Reihe von der damaligen Firma Digital Equipment (DEC). Das Ding sollte 270.000 DM kosten, weit jenseits unserer Finanzierungsmöglichkeiten. Nach mühsamer Verhandlung kam dann ein Leasing-Vertrag zustande, hart erkämpft und ohne eine für uns zu riskante selbstschuldnerische Bürgschaft. Rund 10.000 DM kostete die monatliche Rate, eigentlich auch jenseits der für uns verantwortbaren Preisklasse, plus zusätzlich ca. 3000 DM verpflichtender Wartungsvertrag. Aber Augen zu und durch.
Zurückblickend verfluche ich meine damalige Ungeduld. Die Firma DEC hatte eine kleinere Ausgabe ihrer Rechner, eine sogenannte MicroVax in der Pipeline, die zwei Jahre später auch tatsächlich für 50-60.000 DM auf den Markt kam.
Im September 1984 stand der ganze Gerätepark, das VAX-Ungetüm, das in Form von zwei Kästen in Kühlschrankgröße wegen der erforderlichen Kühlung den Raum mit der schönsten Aussicht für sich beanspruchte, damit verbunden ein PC aus der Serie DEC Professional, und drei Bildschirmterminals, ein Nadeldrucker, Papierstapel mit Lochrand, amerikanische Produkte, erstmal ohne deutsche Umlaute. Unser Personalbestand war jetzt bereichert um eine Sekretärin, eine Kollegin für die geplanten Schulungen und einen Kollegen, der mir bei der Programmierung half.
Ich machte mich sofort daran, ein kleines Personalwirtschaftssystem zu erstellen, das wir für Schulungszwecke nutzen konnten, anknüpfend an die PAISY-Erfahrung mit einer Betriebsratsschulung bei meinem früheren Arbeitgeber. Für unsere geplanten Seminare und Workshops wollten wir eine realistische Umgebung, nicht eine billige Simulation. Um ein breites Spektrum von computerunterstützbaren Prozessen in einem realen Unternehmen abbilden zu können, war natürlich eine Datenbank erforderlich. Lizenzen für damals erhältliche Produkte lagen preislich undiskutabel jenseits unserer Finanzierungsmöglichkeiten.
So machte ich mich an die Programmierung einer relationalen Datenbank, aber bitte ohne die damals üblichen Beschränkungen von Datenfeldlängen und Datensatzgrößen, und - Ehrensache - mit Abfragemöglichkeietn in natürlicher Sprache (längst bevor es das als Künstliche Intelligenz gab).

Der bescheidene Seminarraum
der tse
Parallel dazu erfanden wir eine virtuelle Firma mit ein paar hundert Beschäftigten. Wir dachten uns eine Vielzahl unterschiedlicher Charaktere aus, Fleißige und Faulpelze, kleine Genies, unverbesserliche Tüftler, Drückeberger und Taugenichte. Wir gaben ihnen Namen, stellten laufend neue Mitarbeitende ein, versetzten sie, ließen sie krank werden oder auch nur krank machen, warfen Leute aus der Firma, beurteilten sie regelmäßig und simulierte so ungefähr alles, was auch im realen Leben eines Unternehmens vorkommt, bewusst natürlich in etwas überzeichneter Form. Wichtig war uns, eine Historie aufzubauen, sodass man auch Auswertungen demonstrieren konnte, die in die Vergangenheit reichten.
Für die Veranstaltungen hatten wir zwei Industriefernseher angeschafft, später dann einen Overheadprojektor, mit dem man auch Bilder aus einem Computer auf eine Leinwand befördern konnte, damals eine absolute Neuigkeit.
Arbeit
Das Humanisierungsprogramm mit der HHLA kam zustande. Ich kaprizierte mich auf die Datenbankabfragesprache. Diese sollte eine Form erhalten, dass auch Hafenlager-Facharbeiter damit umgehen konnten. Die Idee war, die Lagerhaltung für die Kundschaft zu einer Art Full Service auszuweiten. Schon damals zeichnete sich ab, dass die fortschreitende Containerisierung der Hafenwirtschaft viele Arbeitsplätze kosten würde. Denn der Hafen mit seinem vielen verarbeitenden Gewerbe würde langsam umgewandelt in eine große Durchreich-Station der von den Schiffen angelieferten Container. Da war im Hafen selber nicht mehr viel zu tun. Der Tallimann war längst Geschichte, nur noch gut für den Song von Harry Bellafonte.
Die Betriebe für meine Beratungsarbeit waren über ganz Deutschland verteilt. Die meisten Projekte verliefen noch in sehr angespannter Atmosphäre, denn die Mitbestimmung der Betriebsräte war nach wie vor hoch umstritten. Ich landete in rund zwei Dutzend Einigungsstellen, in denen die vorsitzenden Richter alles dafür taten, irgendwie eine Regelung hinzubekommen, um eine Entscheidung durch Spruch zu vermeiden. Denn eine Spruchentscheidung hätte unweigerlich weitere Gerichtsverfrahren nach sich gezogen.
Neben der fachlichen Arbeit, unterschiedliche Systeme schnell kennen zu lernen und praktikable Regelungsvorschläge zu entwickeln, ging es auch darum, den Betriebsräten die Angst vor der neuen Technik zu nehmen. Die Arbeitgeberseite habe zwar die Macht, so hieß es. Dagegen war zu setzen, dass wir gute Argumente hatten. Deshalb brauche man auch keine Scheu vor der drohenden Einigungsstelle zu haben. Sie ist nichts Dramatisches, sondern im Gesetz als Endstation der Mitbestimmung vorgesehen. Es galt also, die eigenen Argumente gut in Szene zu setzen. Der Herr-im-Haus-Standpunkt zog also nicht mehr.
Ein Meilenstein im Arbeitsrecht
Aus meiner früheren Tätigkeit hatte ich den Fall INTEX-D03 der Firma Rank Xerox, wie sie damals noch hieß, geerbt. Es war ein - aus heutiger Sicht sehr bescheidenes - Reporting-System über die Arbeit der Außendiensttechniker. Sie mussten ihre Zeiten für jeden einzelnen Arbeitsschritt aufschreiben, die Dauer der Reparaturarbeiten für verschiedene Tätigkeiten, eingesetzte Ersatzteile, Wartezeiten, Wegezeiten und Vorräte in ihren Autos. Diese Infos wurden in das System eingegeben und in ein paar Dutzend fest programmierten Berichten ausgewertet. Die Techniker fühlten sich in klein-klein kontrolliert und in ihrer Berufsehre gekränkt, weil ihnen von offensichtlich fachunkundigen Personen, die auf ihren Bürosesseln klebten, vorgegeben wurde, wie lange sie für die einzelnen Tätigkeiten brauchen durften. Ein typischer Fall aus der damaligen Zeit.
Das Bundesarbeitsgericht
Der Streit kam vor das Arbeitsgericht, wurde weitergereicht zum Landesarbeitsgericht und landete schließlich im Jahr 1982 beim Bundesarbeitsgericht. Das System existierte schon längst nicht mehr, zum Zeitpunkt der entscheidenden Gerichtsverhandlung war das Nachfolgesystem bereits von einem neuen System abgelöst. Beide Seiten und vor allem der Arbeitgeberverband hinter der Firma waren so siegesgewiss, dass der Fall unbedingt durchgezogen werden musste, zumal durchgesickert war, dass das Gericht nur eine Mitbestimmung bei knallharten Soll-Ist-Vergleichen sehen würde. Es ging also um eine Grundsatzentscheidung.
Doch es kam alles anders. Das Gericht sah in seiner Entscheidung vom 14.9.1984 den Tatbestand der Mitbestimmung in allen Fällen als gegeben an, wenn das betroffene System objektiv zur Überwachung geeignet war und die Ergebnisse aus dem System sich auf Personen beziehen ließen, unabhängig davon, auf welchem Weg die Daten in das System gelangt sind. Damit waren auf einen Schlag so gut wie alle Softwaresysteme mitbestimmungspflichtig, denn irgendwo findet sich bei fast jedem Programm eine Ecke, an der sich die Überwachungseignung nachweisen lässt.
Für mich war das ein großer Erfolg, denn seitenweise fanden sich Texte meines Gutachtens in der Urteilsbegründung. Dieses Urteil wurde ein Stück Rechtsgeschichte, eine Grundsatzentscheidung über die Mitbestimmung bei Computersystemen. Kaum auszudenken, was geschehen wäre, wenn das Urteil am nicht zeitgemäßen Gesetzestext haften geblieben wäre. Ganz besonders freute es mich, dass eine klare Darlegung der Fakten und eine schlüssige Argumentation höchstrichterliche Anerkennung fand, jenseits der damals schon reichlich gezündeten Nebelkerzen in einer unsachlichen Debatte.
Nun waren die Weichen gestellt für eine lange Zeit phantasievoller Auseinandersetzungen um die optimale Gestaltung der Arbeitswelt, in der Computer sich anschickten, schnell eine unübersehbare Rolle einzunehmen. Die ermüdenden juristischen Auseinandersetzungen konnten endlich in den Hintergrund verbannt werden.
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Man darf nicht zu streng urteilen über die seltsamen Streitereien der damaligen Zeit. Das Betriebsverfassungsgesetz sah eine Mitbestimmung nur vor, wenn die technische Einrichtung „zur Überwachung bestimmt“ war. Und über die Interpretation dieses Satzes konnte man trefflich streiten. Der Gesetzestext stammte aus dem Jahr 1972, der Gesetzgeber dachte dabei an Fahrtenschreiber, Fersehkameras und sog. Produktographen, die es nicht nur heute, sondern schon damals, 1984, nicht mehr gab. An Computer hatte keiner gedacht. |