Firmenkulturen

Quelle: Hedwig Kellner: Die Teamlüge. Von der Kunst, den eigenen Weg zu gehen, Eichborn Verlag Frankfurt 1997.


"Unternehmen legen auf ihr Image großen Wert. In den letzten Jahren kam der Begriff der "Corporate Identity" in Mode. Unterschiedliche Definitionen für die "Identität eines Unternehmens" wurden inzwischen entwickelt. Es handelt sich bei der "CI" einerseits ums Erscheinen nach außen, also um das Image. Unter den Kreditinstituten hat beispielsweise die Deutsche Bank ein ganz anderes Image als die Sparkasse. Unter den Krankenversicherungen hat die AOK ein anderes Image als die DKV.

Auf der anderen Seite drückt sich in der "CI" das Selbstverständnis eines Unternehmen aus. Es beinhaltet die Absichten am Markt, den internen Stil, das interne Image, die Unternehmenskultur, die strategischen Ziele, die Führungsgrundsätze etc.

Zur Förderung oder Verbesserung der "CI" werden Führungskräfte und Mitarbeiter geschult, Kleiderordnungen festgelegt, Firmenlogos und Vorschriften für das einheitliche Design von Dokumenten entwickelt etc. Es geht darum, intern und extern ein bestimmtes Bild des Unternehmens abzugeben.

Die "CI" kann ein realistisches Bild des Unternehmens zeigen, sie kann aber auch ein Trug- oder Wunschbild der Führungsriege sein. Firmen mit einem seriösen Image können dennoch klammheimlich in illegale Waffengeschäfte verwickelt sein. Firmen mit dem Image wirtschaftlicher Stabilität können bereits marode sein. Firmen mit dem Image, innovativ und dynamisch zu sein, können längst verkrustete, bürokratische Strukturen entwickelt haben.

"Corporate Identity", Image und Realität können also weit voneinander entfernt sein.

Im Hinblick auf die Frage, ob in einem Unternehmen "Teamgeist" herrscht, überhaupt möglich und auch wirklich erwünscht ist, sollte man sich mit der "Firmenkultur" befassen.

Im wesentlichen werden vier "Unternehmenskulturen" unterschieden. Sie hängen von der jeweiligen Größe ab, vom Führungsstil, von der Branche und den in ihr üblichen Verhaltensweisen.

Die vier typischen "Unternehmenskulturen" sind: Dorf-, Dschungel-, Stadt- und Wanderkultur.

1. Dorfkultur

Von einer Dorfkultur spricht man, wenn ein Unternehmen mit einem traditionellen Dorf Ähnlichkeiten aufweist. Zum Beispiel kleine Handwerksbetriebe, Gaststätten, Kaufhäuser oder auch Neugründungen, die sich noch in der Anfangsphase befinden, leben eine Dorfkultur. Merkmale sind:

Die Vorteile einer Dorfkultur sind menschliche Wärme, Geborgenheit und eine offene, unkomplizierte Kommunikation der Kollegen untereinander und des Vorgesetzten mit den Mitarbeitern.

Die Nachteile können sein: Man hält viel zu lange an Traditionen und alten Zöpfen fest. Häufig fehlen der frische Wind und die Fähigkeit, sich neuen Marktgegebenheiten anzupassen. Die Arbeit und die Kommunikation können so informell und spontan erfolgen, dass sich rasch eine gewisse Ineffizienz einschleicht. Der Chef ist absoluter Fürst. Sein Wort gilt. Von den Mitarbeitern wird Unterwerfung verlangt. Das kann bis zur (tatsächlichen oder vorgetäuschten) Annahme seiner politischen und religiösen oder sonstigen Einstellungen sein. Die Einmischung in private Lebensverhältnisse kann sehr weit gehen: Ein katholischer Elektriker wirft seinen geschiedenen Gesellen bei Wiederheirat hinaus. Ein linker Zeitungsverleger feuert seinen Redakteur, weil der sich taufen ließ.

Für Mitarbeiter bedeutet die Dorfkultur, dass eine echte Teamkultur kaum möglich ist. Menschliche Wärme und liebevoller Umgang können das Arbeitsleben sehr angenehm machen. Dafür muss man allerdings bereit sein, sich dem "Bürgermeister" (und eventuell sogar dessen Ehepartner oder Sekretärin) unterzuordnen. Gleichzeitig ist damit zu rechnen, dass es unter den Kollegen stets Tratsch und Petzerei gibt. Man weiß zu viel voneinander, und jeder möchte vor dem Chef gut dastehen. Dass souveräne Teams von Fachleuten gemeinsam neue Strategien oder Ideen entwickeln, kommt kaum vor. Üblich ist, dass der Chef "seine Leute" auf bestimmte Posten setzt, und da macht jeder, was seine Pflicht ist. Aber wie gesagt: Menschlich kann es sehr angenehm sein.

2. Die Dschungelkultur

Ganz anders ist die Dschungelkultur. Hier kennt nicht mehr jeder jeden. Die Geborgenheit einer überschaubaren Gemeinschaft gibt es nicht. Im Gegenteil, die Strukturen und Beziehungen, die Regeln und Vorschriften, die Macht- und Ohnmachtsverhältnisse sind verworren und lassen sich auch nicht klären. Wenn man gerade glaubt, nun kenne man die Zusammenhänge, hat sich schon wieder alles verschoben.

Dschungelkulturen sind häufig Entwicklungen aus ehemaligen Dorfkulturen. Man kennt sie von Unternehmen, die erst vor wenigen Jahren von "Gründervätern" oder "Gründermüttern" ins Leben gerufen wurden und dann rasant wuchsen und ständig neue Mitarbeiter integrieren mussten, während gleichzeitig der Gründer sich gegen Bürokratismus und klar definierte Strukturen (z.B. Organigramm) sperrt. Der Gründer hält am Traum seiner gemütlichen Dorfkultur fest, ist jedoch zugleich vom Erfolg gezwungen, so viele Menschen um sich zu scharen, dass Stadtgröße erreicht wird. Beispiele für Dschungelkulturen waren und sind zum Teil die rasant gewachsenen Software-Häuser, Unternehmensberatungen, Reisegesellschaften, Öko-Bewegungen, neue Modehersteller und neue Restaurantketten.

Typische Nachteile der Dschungelkultur sind:

Typische Vorteile der Dschungelkultur sind:

Innerhalb der Dschungelgesellschaft existieren Inseln von sehr gut arbeitenden Teams. Personen mit gleichen Zielen und harmonierenden Charakteren finden sich und entwickeln neue Produkte oder Strategien.

Dennoch gibt es innerhalb von Dschungelkulturen "Teams", die sich "Räuberbanden" ähnlich gebärden und gemeinsam Ränke schmieden, Ideen von weniger kämpferischen Kollegen klauen und sich gegenseitig darin unterstützen, die anderen unter ihre Kontrolle zu bringen.

Jedem potenziellen Mitarbeiter einer Dschungelkultur ist zu raten, sich gut zu überlegen, ob er wirklich in diese undurchsichtige, tückische und auf Überlebenskampf eingestellte Gesellschaft eintreten will. Gute Leistung, freundliches Wesen und Gehorsam gegenüber dem Chef bringen innerhalb einer Dschungelgesellschaft mehr Stress als Erfolg.

Man muss Spass am Chaos und am beruflichen Risiko haben, um in der Dschungelgesellschaft glücklich und erfolgreich zu sein. Wer immer nur fordert: "Hier müssen doch mal Strukturen klargestellt werden!", der sollte sich lieber für die Stadtkultur entscheiden.

3. Stadtkultur

Stadtkulturen werden meist dann entwickelt, wenn dem Gründer endlich bewusst wird, dass sein Unternehmen inzwischen groß ist und sich vom familiären Dorf zu einem undurchsichtigen und letztlich auch ineffizienten Dschungel entwickelt hat. Die Stadtkultur ist die dritte Entwicklungsstufe eines erfolgreichen und stetig wachsenden Unternehmens. Allerdings müssen fast immer erst Erfolgsknicke dem Gründer vor Augen füfhren, dass das liebgewordene Chaos nicht mehr zu halten ist.

Die Entwicklung von der Dschungel- zur Stadtkultur erfolgt in langsamen Schritten. Irgendwann werden plötzlich die ersten Formulare eingeführt: Arbeitsnachweise, Urlaubsanträge, Bestellzettel für Material oder Ressourcen, Reisekostenabrechnungsformulare...

Danach werden Regeln definiert wie zum Beispiel:

Danach werden Beschränkungen eingeführt:

Das bisherige Recht auf freie Arbeitszeitgestaltung wird auf eine Mindestkernzeit mit Anwesenheitspflicht eingeschränkt.

Danach werden neue Stellen und Abteilungen eingeführt: Personalchef mit Sekretärin, Servicebüro für die PC-Unterstützung, Marketingabteilung, Ausgliederung der Reisekostenabrechnung aus der Buchhaltung etc.

Es wird bewusst, dass das Unternehmen auch zum Markt hin ein einheitliches Profil braucht. Man setzt Mitarbeiter oder ausgediente Führungskräfte daran, sich um Dinge zu kümmern wie strategische Unternehmensziele, Corporate Identity, TQM (Total Quality Management) oder Normierung nach EN ISO 9000, Öko-Zertifizierung...

Während dieses Verstädterungsprozesses zieht sich der Firmengründer allmählich aus dem operativen Geschäft zurück. Er wird Kunst- oder Sozialmäzen, geht in die Politik, betreibt Privatforschung, gründet eine ökologische Putenfarm oder mit der Schulfreundin seiner Enkelin eine neue Familie. Er schlurft bis zum plötzlichen Tod heimatlos durch das eigene Unternehmen und erzählt alte Geschichten, wie er hinter der Garage mit zwei Zangen an seiner ersten Erfindung bastelte.

Ältere Mitarbeiter und vor allem die Sekretärin der ersten Stunde werden mehr und mehr bösartig, verbittert oder kränkelnd, weil sie mit jeder Neuerung deutlich erkennen, dass sie eigentlich in diese modernen Strukturen nicht hineinpassen. Außerdem fühlen sie den Neid derer, die nach ihnen kamen, höhere Studienabschlüsse aufzuweisen haben und trotzdem nur einen Bruchteil dessen verdienen, was "die alte Garde" sich rechtzeitig gesichert hat.

Jüngere Mitarbeiter kennen den Firmengründer gar nicht mehr. Sie haben auch keine Ahnung, ob der noch lebt, das Unternehmen seinen Namen trägt oder die Firmenbezeichnung ein Kunstwort ist. Gab es einmal eine Familie Sap, Tschibo, Mummert, Esso oder taz? Sind Sap, Tschibo, Mummert, Esso oder taz nur Abkürzungen für irgend etwas?

Die Vorteile der Stadtkultur sind:

Die Nachteile der Stadtkultur sind

Innerhalb einer Stadtkultur scheitert echte Teamarbeit an starren Hierarchien und an der häufig zu beobachtenden Feindseligkeit zwischen einzelnen Abteilungen. Übergreifende Teams mit gleichrangigen und sich respektierenden Mitgliedern, die gemeinsam bestimmte Ziele erreichen sollen, sind rar. Wenn zum Beispiel eine neue DV-Ausstattung für die Buchhaltung eingeführt wird, dann kommt es im Projektteam zwischen den Kollegen aus der Datenverarbeitung und denen aus der Buchhaltung unweigerlich zu Streit. Bis ein neues Produkt an den Markt gebracht wird, knallt es erst einige Male zwischen den Entwicklungsabteilungen und dem Vertrieb.

Abteilungsdenken, Gruppenegoismus und Hierarchiebarrieren verhindern gutgemeinte Ansätze zur Teamarbeit. Statt dessen gibt es innerhalb von Abteilungen oder Hieararchieebenen Cliquen bzw. Elitegrüppchen.

Potentielle Mitarbeiter einer Stadtkultur müssen sich der Tatsache bewusst sein, dass sie sich berufliche Begeisterung oder agile Karrierelust abschminken können, wenn sie in ein entsprechendes Unternehmen einsteigen. Man muss schon eine gewisse Behördenmentalität und Neigung zu festen Regeln und Bürokratismus mitbringen, um sich dort wohl zu fühlen. In diesem Umfeld dient der Beruf der Beschaffung der für das Leben notwendigen Finanzen. Von "Berufung" kann kaum die Rede sein.

4. Die Wanderkultur

Von einer Wanderkultur spricht man, wenn es im Unternehmen nicht vorgesehen ist, dass die Mitarbeiter sich dort jahrelang aufhalten. Vielmehr legt man Wert auf ständig frisches Personal mit neuen Ideen und möglichst bescheidenen Gehaltswünschen. Das Unternehmen ist einer Karawanserei vergleichbar. Mitarbeiter fangen an, bleiben drei bis maximal fünf Jahre und ziehen weiter. Die einzig stabilen Faktoren sind meist der Gründer und seine Sekretärin. Nicht selten brüsten sich solche Unternehmen mit dem Hinweis auf ein sehr niedriges Durchschnittsalter der Mitarbeiter. Das soll für Modernität und Flexibilität stehen. Tatsächlich wird in den meisten Fällen sehr traditionell und patriarchalisch geführt.

Typische Wanderkulturen gibt es in der Werbebranche, in Fast-Food-Ketten, in großen Hotels, in Unternehmensberatungen mit begrenztem Markterfolg (wenn Dschungel- und Stadtkultur nicht erreicht werden), in Psychosekten und in den neuen Minifirmen rund um TV-Sender bzw. Shows.

Vorteil der Wanderkultur ist die hohe Beweglichkeit am Markt. Außerdem haben Mitarbeiter gute Chancen, über ihr Fachgebiet hinaus viel Erfahrung für ihre berufliche Zukunft zu sammeln. Die Stimmung in diesen Unternehmen ist meist fröhlich, kollegial und optimistisch. Alle sind gleich jung, haben ähnliche Ziele und möchten Spaß bei der Arbeit.

Nachteil der Wanderkultur ist die berufliche und oft auch soziale Unsicherheit. Häufig sind Mitarbeiter nur freiberuflich eingestellt und können von einem Tag auf den anderen wieder auf der Straße stehen. In den entsprechenden Branchen wird firmenübergreifend viel getratscht. Niederlagen von Einzelpersonen sprechen sich schnell herum und mindern den persönlichen Marktwert. Ein anderer Nachteil kann sein, dass Firmen oft ebenso schnell vom Markt wieder verschwinden, wie sie vor wenigen Jahren aufgetaucht sind.

Teamwork wird in Wanderkulturen besonders groß geschrieben. Man lebt tatsächlich Kollegialität und die möglichst vorurteilsfreie Zusammenarbeit auf gemeinsame Ziele hin. Personen mit verschiedenen Fachgebieten arbeiten Hand in Hand und begegnen sich mit offener Freundlichkeit. Man denke nur daran, wie bei einer TV-Produktion Beleuchter und Kostümbildner, Schauspieler und Tontechniker, Kameraleute und Requisiteure in Teams zusammenarbeiten. Auch Stress, Wutausbrüche und sogar Beschimpfungen führen nicht zu dauerhaften Feindschaften. Eine Zusammenarbeit quer über die Grenzen von Hierarchien, Fachgebieten und Gruppen hinweg wäre zum Beispiel in der Stadtkultur der Deutschen Bank oder bei Siemens undenkbar. Vieles, was in der Wanderkultur mit gemeinsam gerauchten Zigaretten oder gemeinsam geleerten Sektflaschen einfach weggespült wird, bedarf in der Stadtkultur ernster Krisengesspräche mit Anklagen, Beweisführungen, Schuldermittlungen und Genugtuungen. In der Dorfkultur würden solche Vorkommnisse zum Rausschmiss führen, in der Dschungelkultur zu neuen Grabenkriegen und Intrigen.

Trotzdem sollte man nicht auf die Scheinfröhlichkeit und Scheinkollegialität der Wanderkultur hereinfallen. Hinter der schönen Fassade der progressiven Welt wird mit harten Bandagen gekämpft. Jeder weiß, dass man nur wenige Jahre Zeit hat, dieses Leben zu genießen, und dass nicht jeder den Sprung in eine gesicherte berufliche Laufbahn schafft. Statt sich auf Teamgeist zu verlassen, sollte man lieber Beziehungen innerhalb der Branche aufbauen, so viele Leute wie nur möglich auch in anderen Unternehmen kennen und immer genau wissen, wer gerade wo welche Position oder Machtstellung hat. Außerdem muss man oberflächlich und diszipliniert genug sein, um auch mit Menschen ganz wundervolle Beziehungen zu pflegen, die man in Wirklichkeit nicht ausstehen kann.

Für junge, lebhafte Menschen kann die Wanderkultur ideal sein. Man lernt viele Leute kennen, lässt sich den Wind um die Nase wehen und knüpft nützliche Kontakte. Das Leben ist trotz offensichtlicher Ausbeutung (schlechte Bezahlung und ständige Überarbeitung) lustig und unterhaltsam. Wichtig ist nur, dass man möglichst vor dem 35. Geburtstag diese muntere Welt verlässt. Danach sollte man noch schnell den Aufstieg in eine Dschungelkultur versuchen. Wenn das nicht klappt, sich selbständig machen oder rechtzeitig in der Stadtkultur abtauchen.

Abschließend noch einmal die Kernmerkmale der Unternehmenskulturen:

Egal, wo Sie sich bewerben, vergessen Sie nicht, auf Ihre Teamfähigkeit hinzuweisen, und denken Sie zugleich daran, dass es fast immer klüger ist, ganz konkret nur die eigenen Ziele zu verfolgen."


Quelle: Hedwig Kellner: Die Teamlüge. Von der Kunst, den eigenen Weg zu gehen, Eichborn Verlag Frankfurt 1997.