Wilfried Glißmann

Neue Erfahrungen in den Betrieben

Bei meiner Arbeit als Betriebsrat der IBM Informationssysteme in Düsseldorf habe ich in den letzten Jahren irritierende Phänomene unter den Beschäftigten beobachtet: Bestehende Schutzrechte werden von den Mitarbeiter/innen immer häufiger nicht beachtet. "Wie von selbst" arbeiten sie länger als sie eigentlich müssen und fühlen sich für Dinge verantwortlich, die weit über ihre Tätigkeitsbeschreibung hinausgehen.

Bei Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen stellte ich fest, daß sie sich immer häufiger in Situationen wiederfinden, die von dem einzelnen Menschen weitreichende Entscheidungen fordern. Es sind also faktische Probleme und "Forderungen des Marktes", auf die sie mit ihrem Verhalten reagieren und nicht explizite Anweisungen des Managements.

Diese Phänomene erklären sich wenn wir die neuen Unternehmenskonzepte begreifen.

Die neue Organisation der Arbeit

Unternehmenskonzepte wie "Business Reengineering" und "Culture Change" bedeuten im Kern dies:

 

Das neue Prinzip

Sinn dieser Änderungen ist es, für die Menschen im Unternehmenssegment das folgende Prinzip zur Geltung zu bringen:

· Macht, was Ihr wollt, aber seid profitabel!

Das heißt: Der Unternehmer (Top-Manager) tritt zur Seite, die Menschen in der Einheit werden unmittelbar mit ihrem Marktsegment konfrontiert. Es wird zu ihrer Aufgabe, um das Überleben der Einheit am Markt zu kämpfen. Sie müssen die unternehmerischen Probleme der Einheit lösen. Der wirkliche Unternehmer (Top-Manager) steuert nur noch indirekt (durch Setzung von Rahmenbedingungen).

 

Die neue Doppelrolle für die Beschäftigten

Die Beschäftigten finden sich also in einer Doppelrolle wieder:

Sie sind keine Unternehmer - sie haben einen neuen Status: Sie sind "unselbständige Selbständige" im Unternehmen.

Dies ist eine qualitativ neue Situation, die Gefühle zwischen "ganz toll" und "ganz schlimm" hervorrufen. Toll ist, sie müssen nicht mehr Anweisungen ausführen. Aber sie müssen das unternehmerisch Richtige von selbst finden und tun. Sie haben plötzlich die Probleme, die bisher der Unternehmer hatte (zusätzlich zu den fachlichen Aufgaben, die sie natürlich weiterhin haben).

 

Die Auswirkungen dieser Doppelrolle

Unter den Menschen in der kleinen Einheit entsteht eine neue Dynamik: Der gemeinsame Kampf um das Überleben am Markt. Diese neue Dynamik kann für den einzelnen gefährlich werden, wenn es der Einheit wirtschaftlich schlecht geht:

Die neue Dynamik (gemeinsamer Kampf am Markt) erweist sich als Mechanismus der Vereinzelung:
"peer-to-peer"-pressure - das Herausdrängen der "Schwachen" durch die "Starken".

 

Kern-These:

Dieser neue Mechanismus in den Unternehmenseinheiten ist das politische Kernproblem der neuen Organisation der Arbeit.

Früher war die gemeinsame Anhängigkeit von den Anweisungen des Unternehmers die Grundlage für ein gemeinsames und solidarisches Handeln der Beschäftigten. Die alte Solidarität war die Solidarität von Untergebenen und "Befehls-Empfängern".

Für die Menschen in den Unternehmenssegmenten ist das anders. Sie sind in der Doppelrolle, sie müssen viele unternehmerische Entscheidungen selbst treffen. Sie müssen lernen, im Prinzip bei jeder Entscheidung zu überprüfen:

 

Für die Beschäftigten eine neue Verbindung der Freiheit und Unfreiheit

Die Ambivalenz der Gefühle dieser Menschen (zwischen "ganz toll" und "ganz schlimm") erklärt sich aus der neuen und untrennbaren Verbindung von:

 

Sicherheiten für die "unselbständige Selbständigkeit" ersinnen und erkämpfen.

Viele alte Schutzrechte greifen ins Leere. Sollen wir daher fordern: "Zurück in die Abhängigkeit, weil dann unsere Schutzmechanismen wieder funktionieren". Das wäre politische verhängnisvoll, denn die neue Organisation der Arbeit bringt den Beschäftigten reale Selbständigkeitsgewinne. Aber dieser Gewinn erfolgt in untrennbarer Verbindung mit neuen Unsicherheiten und Bedrohungen.

Ich sehe die Sache so: In den letzten hundert Jahren wurden wirksame Sicherheiten für die abhängige Beschäftigung ersonnen und erkämpft. Nun müssen wir in den nächsten Jahren und Jahrzehnten wirksame Sicherheiten für die "unselbständige Selbständigkeit" im Unternehmen erkämpfen.