Vorbemerkung
Diesen Essay habe ich nach dem Verzicht der Gesamthafenarbeiter-Gesellschaft Hamburg auf die Einführung eines Expertensystems im März 1993 verfasst. Die damaligen Ausführungen weisen eine beachtliche Aktualität bezüglich der heute, über dreißig jahre späteren Debatte zum Thema Künstliche Intelligenz auf.
Nachwort zum Tod eines Expertensystems
Der Gesamthafenbetrieb hat die zusammen mit der Siemens-Nixdorf-Informationssysteme AG betriebene Entwicklung eines EDV-Anwendungssystems zur Personaleinteilung (PES) eingestellt. Dies verdiente sicherlich keine besondere Beachtung, wenn es sich bei der nun zu Grabe getragenen Entwicklung nicht um
ein besonders ehrgeiziges Unterfangen gehandelt hätte, das sich einst mit den Federn der Künstlichen Intelligenz prächtig in Szene zu setzen versuchte.
Ein Expertensystem sollte es werden, das
neue Einteilungssystem. Das komplizierte Erfahrungswissen, das bei der Personaleinteilung eine unverzichtbare Rolle spielt, sollte in Form von programmierten Regeln in der „Wissensbasis“ des elektronischen Systems eingefangen und künftigen Generationen von Einteilern zur Verfügung gestellt werden.
Ausgeträumt ist nun der Traum vom Elektronengehirn hinter Computergehäuse-Blech. Sicher
könnte man nun zur Tagesordnung übergehen und nach dem Motto „Schuster bleib bei deinen Leisten“ mit traditionellen Methoden ein neues System entwicklen. Doch bei Begräbnissen sind allenthalben Trauer und Nachdenklichkeit angesagt. Die Trauer mag denjenigen vorbehalten bleiben, die mit den
Entwicklungskosten befasst sind, ein Moment des nachdenklichen Innehaltens dagegen tut allen Betroffenen gut.
Im allgemeinen erfordert die Verwendung von Computern zur Lösung eines Problems zwei Dinge:
- genügend Wissen, um das Problem zu lösen und
- genügend leistungsfähige Elektronik, um die Lösung
auch durchzuführen.
Wie war es nun mit diesen beiden Dingen beim Expertensystem PES bestellt?
Hat man „gewusst“, wie das komplizierte Geschäft der Personaleinteilung abläuft, hat man dies so ge-
nau gewusst, dass man darangehen konnte, mit Hilfe des Computereinsatzes die anstehenden Aufgaben zu automatisieren, wenn nicht ganz, so doch wenigstens in großen Teilen?
Der amerikanische
Computerwissenschaftler Alan J. Perlis hat das hier angesprochene Problem folgendermaßen auf den
Begriff gebracht:
Gute Arbeit in der KI (Künstl. Intelligenz) betrifft die Automation von Dingen, von denen wir wissen, wie sie
gehen, nicht die Automation von Dingen, von denen wir gerne wissen möchten, wie sie gehen.
Computer können uns helfen, vom Nutzen des vorhandenen Wissens zu profitieren, und sie können
uns auch dabei unterstützen, neues Wissen zu erlangen. Aber sie können unser Wissen nicht ersetzen. Es ist ein Trugschluss, wenn man glaubt, ein halbes Leben Berufserfahrung eines „guten“ Disponenten könne man durch ein Expertensystem ersetzen, das durch ein paar Tastaureingaben am neuen
Wundercomputer aus einem Menschen ohne diese Erfahrung sozusagen auf Knopfdruck einen ebenso
guten Einteiler machen würde.
Die Gesamthafen-Betriebsgesellschaft hatte eine Arbeitsgruppe gebildet, die lange Zeit heftig darüber
nachgedacht hat, nach welchen Regeln das Einteilungsgeschäft überhaupt abläuft. Dieser Prozess
war - so einer der beteiligten Betriebsratsmitglieder - für viele Teilnehmer insofern überraschend, als
nun zum ersten Mal versucht wurde, sich das bewusst zu machen und zu Papier zu bringen, was tagein
tagaus - offensichtlich überwiegend durchaus mit Erfolg - während der Einteilung getan wurde.
So entstand ein Regelwerk der Hafen-Einteilung, das dann die Grundlage für die Programmierung des Expertensystems werden sollte. Rund 60 engbeschriebene Schreibmaschinenseiten kamen zusammen.
Fragt man nun die Einteiler selbst, wie sie vorgehen, wenn sie - meist unter erheblichem Zeitdruck - die
Hafenarbeiter in Gänge zum Laden oder Löschen der Schiffe einteilen, so werden sie kaum einräumen, dass sie nach den gerade mühsam aufgeschriebenen Regeln vorgehen. Schließlich haben sie die
Leute auch eingeteilt, bevor die Regeln aufgeschrieben waren.
Es ist eher so, dass man sich dieser
(oder ähnlicher) Regeln besinnt, wenn man als Einteiler im Nachhinein gefragt wird, warum man denn
die Einteilung so vorgenommen hat, wie es gerade geschehen ist. Sozusagen zur Begründung dessen,
was man getan hat, erinnert man sich an gewisse Regeln.
Diese haben sicher auch eine Rolle gespielt bei dem, was der Einteiler vorher getan hat. Aber erklären
sie seine Entscheidung? Sind die aufgeschriebenen Regeln überhaupt vollständig? Sind sie widerspruchsfrei?
Bevor wir nun den Computerbegeisterten wieder das Ohr leihen und sie sagen hören, das
seien zugegeben noch ein paar Schwierigkeiten, die man getreu dem trial-and-error-Verfahren noch
bewältigen werde, versuchen wir es einmal mit einem Stück ehrlicherer Bescheidenheit. Wir müssen
zugeben, dass wir es nicht wissen, was im Kopf (vermutlich) oder im Bauch eines Einteilers vorgeht,
wenn er die Leute einteilt, doch wir wissen, dass sein Gehirn nicht in einer „Wissensbasis“ gespeicherter Regeln herumkramt und wie die Inferenzmaschine des Expertensystems logische Schlussfolgerungen daraus zieht oder als häufig auftretende Ergebnisse gespeicherte Informationen abruft und dann
zu einer Einteilung kommt.
Wir sind heute, im Jahr 1993, weit davon entfernt, zu begreifen, wie unser
Gehirn funktioniert. Auf jeden Fall hat es wenig zu tun mit den Abläufen in einem Computer, und mag
der noch so viele Millionen Befehle pro Sekunde ausführen.
Halten wir uns bitte daran, Computer nur Dinge tun zu lassen, von denen wir wissen, wie sie funktionieren - und deren Folgen wir übersehen und beherrschen können.
Kehren wir zurück zum EDV-unterstützten Einteilungssystem. Die Entscheidung, welche Leute in welchen Gruppen zu welchen Schiffsaufträgen eingeteilt werden, ist eine Entscheidung, die der Disponent zu treffen - und ja auch zu verantworten hat. Computer sind dabei keineswegs nutzlos, im Gegenteil, sie können sehr nützliche Dinge
tun, zum Beispiel:
- Sie können dafür sorgen, dass die Disponenten über alle erforderlichen Informationen verfügen, die
Aufträge, aber auch Mitarbeiter betreffen.
- Auch wenn die Disponenten die meisten Mitarbeiter persönlich kennen, gibt es immer eine Menge Informationen, die der Disponent nicht parat hat, z.B. die
zeitliche Verfügbarkeit betreffend. Der Computer kann dem Disponenten blitzschnell sagen, ob ein
Mitarbeiter verfügbar ist, ob er Urlaub hat und in welcher Funktion er zuletzt eingeteilt war.
- Damit
verbessert sich die Informationsbasis des Disponenten, und seine Entscheidungen werden aller
Voraussicht nach von höherer Qualität und Zuverlässigkeit sein, als wenn er diese Informationen
nicht gehabt hätte.
- Computer können bewirken, dass die gebrauchte Information so präsentiert wird, dass sie schnell
und ohne große Anstrengung von den Disponenten aufgenommen werden kann, z.B. durch eine
gut durchdachte grafische Darstellung.
- Die vielen Routine-Schreibtätigkeiten, durch die etwas nachgewiesen, dokumentiert oder abgerechnet werden muss, kann ein Number Cruncher von Computer besser erledigen als ein Mensch. Dessen Kopf bleibt frei für die schwierigeren Dinge, nämlich Entscheidungen zu treffen, wenn das Geschäft nicht so reibungslos verläuft, wie es eigentlich sollte, wenn es Probleme, Konflikte und Widersprüche gibt.
Das alles sind bekannte Dinge. Computer sind hier nützlich, weil sie in den Funktionen eingesetzt
werden, mit denen wir Menschen eher Probleme haben. Da ist das Problem mit der „magischen Sieben“: Mehr als sieben Dinge (plus/minus zwei) sind es nicht, die das Kurzzeitgedächtnis eines normalen Menschen gleichzeitig beackern kann. Aber alles, was wir zu entscheiden haben, muss durch das
Nadelöhr eben dieses Kurzzeitgedächtnisses. Wer hat es nicht schon einmal erlebt, dass ihm jemand
so kompliziert einen unbekannten Weg erklärt hat, dass man am Ende der Erklärung ihren Anfang
schon wieder vergessen hat?
Information gut aufbereitet - in strukturierter Form - darzustellen, wäre eine große Erwachtung an die Arbeitsunterstützung durch einen Computer. Der „vergisst“ nichts und ist
ziemlich schnell, wenn es darum geht, Informationen zu verteilen, sie von einem Ort an einen anderen
zu bringen. Meldet ein Mitarbeiter sich im Personalbüro krank, so kann - dank Computer - der Disponent wenige Sekunden später bereits wissen, dass der Mitarbeiter nicht mehr einteilbar ist.
Haben die
Entwickler des Computerprogramms gut nachgedacht, so erschlagen sie die Disponenten natürlich
nicht mit lauter Detailinformationen, sondern sorgen dafür, dass nur das Nötige auf den Bildschirmen
steht, alles darüber hinaus für den Einteilungsprozess Wissenswerte aber jederzeit hervorgeholt werden
kann, mit normalen Bordmitteln des gesunden Menschenverstandes.
Nahezu unschlagbar sind Computer, wenn es darum geht, etwas zu berechnen. Sie können besser
und vor allem schneller Zahlen zusammenzählen, wenn es um Berechnungen von Arbeitszeiten oder
Fakturierungen von Aufträgen geht. Sie können diese wenig ansprechenden, meist sehr monotonen
Tätigkeiten im Hintergrund erledigen, während im Vordergrund Menschen die eigentliche Arbeit tun
und die Abläufe der Arbeit steuern.
Eine weitere Erwartung, die vor allem von vielen Unternehmensleitungen an Computer gestellt wird,
bedarf ebenfalls einiger kritischer Worte. Es geht um die Automatisierung, die Frage, ob Computer
Menschen ersetzten werden (oder sollten). Schaut man sich um in den heutigen Fabriken und Büros, so
findet man, dass Computer immer mehr Dinge tun, die bisher Menschen zu tun pflegten. Dieser Trend,
so ist zu befürchten, wird sich noch weiter fortsetzen, und man kann sich fragen, wohin das bei tendenziell steigender Arbeitslosigkeit gesellschaftspolitisch hinführen soll.
Pessimistische Voraussagungen
konzentrieren sich auf diese Automatisierungsfähigkeit des Computers, die zweifelsfrei vorhanden ist.
Aber damit konzentriert man sich auf die falsche Eigenschaft. Das Entscheidende bei den heutigen
Computern ist nicht ihre Fähigkeit zur Automation, sondern zur Erweiterung.
Die Personal Computer sind ein gutes Beispiel. Ihre Beliebtheit geht im wesentlichen auf eine vorher
nicht vergleichbar zur Verfügung stehende Software zurück: Kalkulatonsprogramme (mit grafischen
Darstellungsmöglichkeiten der Ergebnisse), Textverarbeitung und Spiele. Dabei spielt auch Automation
eine Rolle, aber nicht die wesentliche.
Es sind neue Dinge, die nun dank Computerunterstützung getan
werden können. Sie waren vorher wegen fehlender Werkzeuge nicht oder nur mit unvertretbar hohem
Aufwand möglich. Wir nutzen die fortgeschrittene Automation, beispielsweise die, die hinter einer Ta-
bellenkalkulation steckt, um unsere Fähigkeiten zu erweitern. Das neu zu schaffende Einteilungssystem ist ein „kleines“ System, die Zahl seiner Endbenutzer wird unter einem Dutzend liegen. Der Erwartung, die Zahl der Einteiler wird man dank EDV-Einsatz herabsetzen können, sollte man eine klare
Absage erteilen.
So nimmt es langsam Gestalt an, welche Fragen im Vordergrund stehen sollten, wenn die Gesamthafenarbeiter-Gesellschaft über
ein neues Einteilungssystem nachdenkt.